Sehr geehrte VG Wort,
soeben habe ich Ihr Positionspapier erhalten und gelesen. Als Wissenschaftler, Autor und Leser bin ich empört über Ihren Widerstand gegen jegliche Verkürzung der Schutzfristen, insbesondere gegen die freche Behauptung, sie hätte keinerlei Vorteil für die Allgemeinheit.
Diese Begründung ist aus meiner Sicht eine dreiste Lüge, da eine ganze Reihe von Studien und Marktanalysen (siehe z.B. hier) zeigen, dass der ganz überwiegende Teil der Schriftwerke nach ca. 10-20 Jahren nicht mehr am Markt verfügbar ist und somit auch keine Einnahmen für die Urheber und Verwerter generieren. In der Folge sind die allermeisten Bücher, die zwischen dem Zeitpunkt des Einsetzens der Schutzfristen und ca. der Mitte der Neunziger Jahre verlegt wurden, nicht mehr lieferbar (Titel davor jedoch schon). Das ist ein enormer und in keiner Weise zu unterschätzender Nachteil für die Kultur, der aus meiner Sicht in keiner Weise durch arbeitslose Einkommensnachteile für die Autoren der sehr wenigen noch aktuellen Bestsellerwerke aufgewogen wird.
Umgekehrt wäre von Ihnen der Nachweis zu führen, dass ein nennenswerter Anteil unserer kulturellen und wissenschaftlichen Schriftgüter nur dadurch entstanden ist, dass eine Aussicht bestand, über 70 Jahre hinweg nachfolgende Erbengenerationen mit Urheberrechtsansprüchen zu versorgen. Diese Vorstellung ist doch völlig absurd und lebensfremd!
Die Situation, die durch die absurd langen Schutzfristen entstanden ist, bedeutet unabhängig von allen Erwerbsinteressen eine Gefahr für unsere Kultur. Wir leben in einem Zeitalter der Digitalisierung; viele papierene Bibliotheken durch digitale Archive abgelöst. In vielen Wissenschaften ist dieser Vorgang in der Praxis nahezu abgeschlossen. Die allgemeine und direkte Verfügbarkeit von Inhalten durch das Internet hat in Wissenschaft, Popkultur und Kunst zu einem riesigen Entwicklungsschub geführt, vergleichbar wohl nur mit der Einführung der Druckerpresse. Die Schutzfristen dienen jedoch nicht nur real auffindbaren Urhebern. Für einen Großteil der Werke, die vor 1970 geschrieben wurden, sind Urheber bzw. heutige Rechteinhaber praktisch nicht auffindbar, so dass eine Digitalisierung und Neuveröffentlichung dieser verwaisten Werke nicht möglich ist. Sie werden im Zuge der Schrumpfung der Bibliotheken ganz buchstäblich auf den Müllhaufen der Kulturgeschichte entsorgt. Das ist allenfalls im sehr kurzfristig gedachten Geschäftsinteresse des hier und heute operierenden Verlegers, aber im Widerspruch zum kulturellen Interesse der Gesellschaft insgesamt.
Als VG Wort erwarte ich von Ihnen, dass Sie sich nicht bedenkenlos zum Handlanger einiger weniger Verlage und einer winzigen Anzahl von Autorenerben machen. Ihre Existenzberechtigung besteht in der Unterstützung der Produktion und Erhaltung von Kulturgütern, nicht in deren Marktbereinigung und Bekämpfung.
Mit freundlichen Grüßen,
Joscha Bach
Ich verstehe die Kritik an der 70-Jahre-Schutzfrist nicht: Wer nicht das Urheberrecht an einem Buch sondern ein Grundstück oder eine Firma erbt, behält dieses Recht ohne jede zeitliche Begrenzung. Wieso sollten die Erben der Urheber schlechter gestellt werden?
ReplyDeleteWenn schon, dann muß diese Diskussion zum Anlaß genommen werden, vollständig über das Erbrecht nachzudenken: http://mosereien.wordpress.com/2012/06/01/urheberrecht-erbrecht-schutzfristen/
Mir leuchtet nicht ein, warum das gleichzusetzen wäre. Es geht in jedem Falle um eine Abwägung der Effekte, nicht nur um abstrakte Prinzipien.
DeleteLiteratur wird dadurch, dass sie von möglichst vielen Menschen gelesen wird, für die Gesellschaft wertvoller. Die Vergütungssysteme müssen im Auge behalten, dass literarisches und wissenschaftliches Arbeiten gefördert werden, und die Rezeption möglichst nicht gebremst. Da sind die exzessiven Schutzfristen derzeit kontraproduktiv, weil einem sehr kleinen Nutzen für die Autoren ein großer Schaden für die Rezeption gegenübersteht.
Umgekehrt führt die Abschaffung des Erbrechts an Gütern in vielen Fällen dazu, dass niemand mehr am Lebensabend ein Apfelbäumchen pflanzen würde.